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Hinter vielen Initiativen stehen Migrant*innen

Text

Anina Torrado Lara

Erschienen

06.10.2022

Dina Bader und Denise Efionayi

Dina Bader und Denise Efionayi-Mäder forschen am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien an der Universität Neuchâtel. Für das Förderprogramm «ici. gemeinsam hier.» haben sie analysiert, wie Fachstellen und Freiwillige zusammenarbeiten, um Zugezogene bestmöglich zu unterstützen. Die aktuelle Situation zeigt, dass es in der Schweiz unzählige Menschen gibt, die sich aus Solidarität freiwillig engagieren, um Neuankömmlingen das Leben in der Schweiz zu erleichtern.

Frau Efionayi-Mäder, was erwartet eine frisch in die Schweiz zugezogene Person?

Denise Efionayi-Mäder (DEM): Erstmals ist natürlich alles neu! Wir beobachten, dass Menschen, die aus beruflichen oder familiären Gründen in die Schweiz kommen, sich relativ schnell einleben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Geflüchtete Menschen haben es schwerer. 

Wo liegen für Neuzugezogene die Hürden?

DEM: Mit der Integrationsagenda Schweiz 2019 wurde zwar einiges verbessert, doch noch immer haben Menschen aus anderen Ländern beschränkten oder verspäteten Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Bildung. Oft werden auch Diplome nicht anerkannt oder es bestehen Sprachdefizite. Hinzu kommt, dass in Branchen, die vorwiegend Personen mit Migrationserfahrung beschäftigen, prekäre Arbeitsverhältnisse bestehen. Und die bedarfsgerechte frühe Förderung von Kleinkindern ist vielerorts ungenügend entwickelt.

Dina Bader (DB): Leider werden über Medien oder Social Media noch immer Stereotypen und Anschuldigungen verbreitet. Zum Beispiel, dass Asylsuchende «das System missbrauchen würden». Die Vorurteile erschweren es, mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Asylsuchende müssen oft «beweisen», dass sie einen Platz in der Schweiz «verdienen». Die soziale und berufliche Integration wird dann noch zusätzlich durch unsichere Aufenthaltsgenehmigungen erschwert. 

Wie finden Neuzuziehende Zugang? 

DEM: In den letzten 20 Jahren wurde die Integrationsförderung zunehmend professionalisiert, was auch damit zusammenhängt, dass die Menschen mobiler geworden sind. Es wird erwartet, dass sich Zugezogene rasch in die neue Umgebung eingliedern. Gleichzeitig sind die sozialen und beruflichen Anforderungen in der Wissensgesellschaft gestiegen. Es wird umso wichtiger, Neuzuziehende in verschiedenen Lebensbereichen zu unterstützen. Zum Beispiel durch die gezielte Sprachförderung oder die Frühförderung von mehrsprachigen Kleinkindern. Gute Chancen hat, wer solide Grundkenntnisse und übertragbare Berufserfahrungen vorweisen kann. 

Wie können Freiwilligeninitiativen die professionelle Integrationsarbeit ergänzen?

DEM: Freiwillige öffnen Neuankömmlingen Türen zur Gesellschaft und zum Arbeitsmarkt. Über die Sprachförderung können die Menschen zum Beispiel Kontakte zu anderen knüpfen und die Sprache in ihrer Freizeit üben. 

DB: Studien zeigen, dass die betreuten Personen vor allem die Nähe und authentische Beziehungen mit Freiwilligen schätzen. Im Gegensatz zu Fachpersonen, die eine gewisse Distanz zeigen müssen und nur eine begrenzte Zeit für jede und jeden einzelnen haben, bieten Freiwillige ihre freie Zeit an. Sie binden Menschen aus anderen Ländern in ihre sozialen Netzwerke ein und bringen sie mit ihren Familien und Freunden zusammen. So entstehen auch dauerhafte Freundschaften. Für Asylsuchende, die in Zentren untergebracht sind, sind die Freiwilligen oft die einzigen Kontakte zur lokalen Bevölkerung. Freiwillige leisten eine soziale Integration, die über ihren «Job», also zum Beispiel ein Mentoring, hinausgeht.

In welchen Bereichen leisten Freiwillige besonders wertvolle Dienste?

DEM: Wenn der Austausch zwischen Neuzugezogenen, Freiwilligen und lokaler Bevölkerung aus freien Stücken erfolgt, erhalten diese Beziehungen eine besondere Qualität, die nicht durch professionelle Vermittlung ersetzbar ist. Eine Zugewanderte kann einer Freiwilligen zum Beispiel auch persönliche Fragen stellen, die ein besonderes Vertrauensverhältnis voraussetzen. Wie zahlreiche Studien belegen, sind persönliche Kontakte etwa bei der Stellen- und Wohnungssuche oder bei Konflikten mit Behörden Gold wert. Damit Fachpersonen und freiwillig Engagierte optimal zusammenarbeiten, müssen sie ihre Komplementarität gegenseitig anerkennen und wertschätzen.  

Welche Freiwilligeninitiativen sind besonders erfolgreich?

DEM: Es kann von Vorteil sein, wenn Menschen beteiligt sind, die selbst Migrationserfahrung haben. Diese bringen eigene Erfahrungen ein und liefern handfeste Antworten auf alltägliche Herausforderungen. Initiativen, die auf gegenseitigem Lernen basieren, ermöglichen den Menschen Anerkennung und Mitbestimmung. Wenn alle gemeinsam handeln, profitieren auch alle davon. Und ganz wichtig: So entstehen keine einseitigen Abhängigkeitsverhältnisse oder bevormundende Hilfestellungen. 

Was charakterisiert diejenigen Freiwilligen, die selbst Migrationshintergrund haben?

DEM: An der Schnittstelle von Migration und freiwilligem Engagement besteht noch grosser Forschungsbedarf. Einzelne Studien zeigen aber, dass in der Integrationsarbeit Personen mit Migrationshintergrund gut vertreten sind, während sie über alle Bereiche hinweg weniger erfasste Freiwilligenarbeit leisten als gebürtige Schweizer*innen. Wir beobachten, dass sich länger in der Schweiz ansässige Frauen und Männer im mittleren Alter, die tendenziell über eine gute Bildung verfügen, sehr aktiv engagieren. Interessant ist auch, dass Frauen im Integrationsbereich stärker vertreten sind als Männer. Sonst ist das eher umgekehrt.  

«ici. gemeinsam hier.» setzt auf die Begegnung und Kommunikation, das mehrsprachige Aufwachsen und berufliche Perspektiven. Was leisten Initiativen in diesen Bereichen? 

DB: Unabhängig davon, ob eine Initiative aus einem Mangel an Angeboten oder dem Bedürfnis entsteht, das persönliche Wohlbefinden der betroffenen Zugezogenen zu steigern: Die Projekte, die «ici. gemeinsam hier.» fördert, schliessen Lücken und stärken das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft.

Letzte Frage: Können Freiwilligeninitiativen auch soziale Ungleichheiten verstärken?

DEM: Diese Gefahr besteht, wenn das zivilgesellschaftliche Engagement nicht als sinnvolle Ergänzung zu den professionellen Diensten verstanden wird, sondern als kostengünstige Variante davon. Menschen aus anderen Ländern sind im Berufsleben, in der Bildung oder auf dem Wohnungsmarkt oft gegenüber Einheimischen benachteiligt. Wenn nun öffentliche Fördermassnahmen durch Spenden oder Freiwilligenarbeit ersetzt werden, sind die Angebote grösseren Unwägbarkeiten ausgesetzt und drohen die Chancen- und Verteilungsungleichheit zu verstärken.

Zur Studie und den Autorinnen

Denise Efionayi-Mäder und Dina Bader vom Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM) an der Universität Neuchâtel haben im Auftrag von «ici. gemeinsam hier.» die Freiwilligenarbeit im Migrationsbereich erforscht. Die Studie unter dem Titel Förderprogramm «ici. gemeinsam hier.»: Wissenschaftliche und empirische Möglichkeiten steht zum kostenlosen Download bereit.

Dina Bader von der Universität Neuchâtel

Dina Bader (Foto: zVg)

Dina Bader

Dina Bader hat einen Doktortitel in Soziologie und ist Projektleiterin am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien an der Universität Neuchâtel. Seit über zehn Jahren ist sie an zahlreichen Evaluationen und Auftragsforschungen in den Bereichen Integration, Gender und Rassismus beteiligt.

Denise Efionayi-Mäder von der Universität Neuchâtel

Denise Efionayi-Mäder (Foto: zVg)

Denise Efionayi-Mäder

Denise Efionayi-Mäder ist Soziologin, Projektleiterin und Vizedirektorin des Schweizerischen Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien an der Universität Neuchâtel. Ihre Arbeitsschwerpunkte kreisen unter anderem um Fragen der Partizipation von Migrierten, Flüchtlings-, Sozial- und Gesundheitspolitik, Sans-Papiers und Rassismus.